17. Juni 1998 

Menschenrechtsdebatte (hier § 19 Ausländergesetz, Härteklausel) 

Vizepräsidentin Michaela Geiger: ... Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf, SPD-Fraktion. 

Hanna Wolf (München) (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf Herrn Lummer möchte ich nicht eingehen, aber auf Frau Falk. Frau Falk, Sie haben mit Recht angesprochen, daß es zum Thema Menschenrechte viele gemeinsame Anträge gegeben hat. Sie haben heute auch unseren gemeinsamen Antrag gegen die Genitalverstümmelung von Frauen vorgestellt. Ich bin sehr froh, daß wir diesen gemeinsamen Antrag erreicht haben. 

Sie haben aber in einem Punkt die Lorbeeren etwas zu großzügig verteilt. Diese Anträge sind zustande gekommen, weil sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier zusammengesetzt haben, um bei diesem Thema etwas voranzubringen, nicht die Bundesregierung. 

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) 

Das gleiche gilt natürlich auch für das Thema Vergewaltigung in der Ehe. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.) 

Ich möchte aber diese Debatte für ein anderes Thema nutzen und ein Beispiel für eine Menschenrechtsverletzung in unserem Land einbringen. Ich setze auf diese Debatte heute und hoffe, daß es vielleicht möglich ist, in diesem Fall noch zu helfen und Schlimmeres zu verhindern. Ich spreche von einem Einzelfall, der mich sehr bewegt, und ich hoffe, wie gesagt, daß wir ihn von hier aus noch beeinflussen können. Wenn nicht, müßte ich mich für diese Republik und für das Land Bayern sehr schämen. 

Es geht um den Fall der Kurdin Tülay O. und um den § 19 des Ausländergesetzes, den wir vor einigen Wochen hier verändert haben. Frau O. lebt in Kempten. Ihre zwei Kinder sind in Kempten geboren. Sie kann sich und ihre Kinder selbst versorgen. Sie ist integriert. Ihr Ehemann hat sie physisch und psychisch mißhandelt. Er hat ihr die Nahrung vorenthalten, sie einer ungeheizten Wohnung ausgesetzt, sie mit dem Messer bedroht und verletzt. Er hat sie krankenhausreif geschlagen und jahrelang wie eine Sklavin gehalten. Deshalb hat sie sich von ihm scheiden lassen und so ihr abhängiges Aufenthaltsrecht verloren. Ein Bleiberecht oder gar ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wird ihr von der Bayerischen Staatsregierung vorenthalten. 

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Eine solche Verdrehung von Tatsachen!) 

Der bayerische Innenstaatssekretär diese Woche: "Frau O. ist vollziehbar ausreisepflichtig und daher abzuschieben." Und weiter: "Es besteht daher kein Raum für ein Zuwarten bis zu einer endgültigen Entscheidung durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof." Das Opfer wird also auch noch bestraft. 

Meine Damen und Herren, für welche Fälle haben wir eigentlich die Härtefallklausel in § 19 des Ausländergesetzes geändert? 

(Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]: Das habe ich mich auch gefragt!) 

Selbst nach dem Gesetzentwurf der Koalition vom 18. Juni 1996 ist dies ein Härtefall. Dort heißt es unter anderem: "Fälle einer außergewöhnlichen Härte können insbesondere dann gegeben sein, wenn der nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Mißhandlung durch den Ausländer die eheliche Lebensgemeinschaft aufgehoben hat." Über den Geist dieser Härtefallklausel waren wir uns also in diesem Hause einig. Trotzdem stuft das bayerische Innenministerium diese Mißhandlungen lediglich als "sehr unglückliche Ehe" ein. Welch ein Eheverständnis! 

Warum aber kann die Bayerische Staatsregierung so menschenverachtend handeln? Überfällige Durchführungsvorschriften fehlen. Hier hat die Bundesregierung eben nicht gehandelt. Sie hat verschleppt, verzögert -- wohl auch aus Rücksicht auf die CSU. In keinem anderen Bundesland würden diese Mutter und ihre beiden Kinder abgeschoben. 

(Beifall bei der SPD und der PDS)  

Bayern kann sich also offenbar wieder einen Sonderweg erlauben. 

Daher sage ich: Die Bundesregierung verletzt Menschenrechte. Sie schützt Frauen nicht vor Gewalt, wenn sie Ausländerinnen sind. Menschenrechte aber sind unteilbar. 

(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das betrifft die Landesregierung!) 

-- Deswegen appelliere ich hier heute, Einfluß dahin gehend zu nehmen, daß in diesem Falle ein Gesetz, das wir gemeinsam verabschiedet haben, zur Ausführung kommt. 

In dem Bericht der Vierten Weltfrauenkonferenz von Peking heißt es in Kapitel IV: "Der Begriff "Gewalt gegen Frauen" bezeichnet jede Handlung geschlechtsbezogener Gewalt, die der Frau körperlichen, sexuellen oder psychischen Schaden oder Leid zufügt oder zufügen kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung in der Öffentlichkeit oder im Privatleben." Auch hier haben wir alle zugestimmt, auch Frau Ministerin Nolte. 

Für die Interpretation der Bayerischen Staatsregierung ist dies aber bedeutungslos. Die Frau muß drei Jahre in Deutschland verheiratet sein, und sollte sie das Ende dieser drei Jahre nicht erleben, hat sie eben Pech gehabt. Ich kann dies nur so drastisch ausdrücken, weil der Zynismus, der uns hier begegnet, nicht mehr zu überbieten ist. 

Die CSU geriert sich landauf, landab geradezu als Erfinderin des Opferschutzes. Was tut sie aber wirklich? Sie bestraft Opfer, in diesem Fall eine Mutter und ihre zwei Kinder. Sie versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor der Rechtsweg ausgeschöpft ist. 

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Unglaubliche Brunnenvergiftung!) 

Sie verhindert eine ordentliche Rechtsfindung. In ihrer paranoiden Angst vor Gesetzesmißbrauch verhindert sie einen vernünftigen Gebrauch gültiger Gesetze. 

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie reden wider besseres Wissen!) 

Nein, nicht wider besseres Wissen. In Bayern ist man empört. In Kempten gibt es eine Bürgerinitiative. Der Stadtrat hat eine Resolution verabschiedet, in der er an den bayerischen Innenminister appelliert, der Mutter und ihren Kindern wenigstens Aufschiebung zu gewähren, damit das Unrecht nicht Rechtskraft bekommt. 

(Beifall bei der SPD und der PDS) 

Hier wird ein Exempel statuiert und eine Frau nicht vor Gewalt geschützt, die auch in ihrem Heimatland sehr gefährdet ist und deren Kinder dort keine Zukunft haben. 

Vizepräsidentin Michaela Geiger: Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist zu Ende. 

Hanna Wolf (München) (SPD): Da frage ich nach dem Verständnis der Bayerischen Staatsregierung vom Schutz der Familie. Dieser gilt anscheinend nur für deutsche Familien. Deswegen erfolgte in dieser Menschenrechtsdebatte dieser Beitrag von mir. 

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie sind auf einem Auge blind!) 

Vizepräsidentin Michaela Geiger: Kommen Sie bitte zum Schluß. Ihr Redezeit ist weit überschritten. 

(Zuruf der Abg. Dr. Edith Niehuis [SPD]) 

Hanna Wolf (München) (SPD): Ich bin bei meinem letzten Satz. Erlauben Sie mir, daß ich mich angesichts dieses Falles hier errege. Es geht darum, daß wir noch einmal auf die Bayerische Staatsregierung Einfluß nehmen. Ich bitte die Bundesregierung und das Parlament, daß dieser Mutter und ihren Kindern nicht Unrecht geschieht und sie in Deutschland bleiben können. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


 
 
SZ, 23.6.1998:
Tülay O. muß nicht ausreisen, Gericht verschiebt die Abschiebung

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in München hat die Kemptener Ausländerbehörde angewiesen, mit der Abschiebung der jungen Kurdin Tülay O. so lange zu warten, bis das angestrengte Eilverfahren abgeschlossen ist. Dies erklärte gestern Werner Dietrich, der Anwalt der 29jährigen Kurdin, gegenüber der Süddeutschen Zeitung. 

Wörtlich heißt es in dem Schreiben des VGH an den Anwalt: "Der Senat geht davon aus, daß vor seiner Entscheidung nicht vollstreckt wird." Diese Anordnung sehe er, so Dietrich, als
"überaus positiv" an, da sie keinesfalls selbstverständlich sei. Problematisch dagegen wertet Dietrich die Annahme der Kemptener Ausländerbehörde, Tülay O. werde als "treusorgende Mutter" ihren kleinen Sohn und ihre sechsjährige Tochter in die Westtürkei mitnehmen. Eine  Ausweisungsverfügung für die Kinder gebe es jedoch nicht.