18.1.2001, 143. Sitzung des Deutschen Bundestages

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann (Bremen), Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Soziokultur - Drucksachen 14/1575, 14/4020 -

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: . . . Als nächste Rednerin hat die Kollegin Hanna Wolf von der SPD-Fraktion das Wort.

Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte dem Herrn Staatsminister im Namen meiner Fraktion einen guten Start hier im Deutschen Bundestag wünschen. Ich freue mich natürlich als Münchener Abgeordnete, dass er aus München kommt. Diese Bemerkung darf erlaubt sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Monika Griefahn [SPD]: Die Bayern gehen nach Preußen!)

Bevor ich auf den Begriff "Soziokultur" eingehe, möchte ich zunächst einen Dank aussprechen. Ich möchte all denen danken, die in diesem Bereich arbeiten und durch ihr Engagement und ihr Schaffen Soziokultur verkörpern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Ein ganz besonderer Dank gilt den vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen. Ich stimme Herrn Lammert zu: Ohne sie wäre diese Arbeit nicht machbar. Deswegen gilt ihnen an erster Stelle mein Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Die Bundesregierung schätzt die Soziokultur und fördert diesen Beitrag zur Zivilgesellschaft, soweit es ihr verfassungsrechtlich möglich ist. Ich bin Ihnen, Herr Lammert, sehr dankbar, dass Sie und Ihre Fraktion diese Große Anfrage gestellt haben. Haben wir doch jetzt Gelegenheit, wenn auch etwas spät, hier noch einmal auf die Bedeutung von Soziokultur hinzuweisen.

Der Begriff entstand in den 70er-Jahren als Folge der Studentenbewegung und anderer sozialer Bewegungen, wie zum Beispiel auch der Frauenbewegung. Unter ihr verstand man zunächst eine Gegenbewegung zum bürgerlichen Kulturbetrieb und wollte vor allem Kultur für alle fördern und praktizieren, die kreative Selbstständigkeit möglichst vieler Menschen fördern, den Zugang zu Kunst und Kultur erleichtern und die Kultur wieder in die gesellschaftliche Wirklichkeit des Alltagslebens einbinden. Das Motto "Kultur für alle" sollte helfen, auch so genannte kulturferne Bevölkerungsschichten an der Kultur teilhaben zu lassen. Ich glaube, das ist mit ihrer Arbeit gelungen.

Heute besteht die Gefahr, dass sich Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus, Generationenkonflikt und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft ausbreiten. Die soziokulturelle Arbeit wird von daher immer wichtiger.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)

Heute gibt es insgesamt 80 Verbände. Allein 383 Einrichtungen sind in der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren organisiert, 300 Einrichtungen im Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen, aber dazu kommen auch kommunikations-, medien- und museumspädagogische Einrichtungen. Die Zentren unterscheiden sich schon strukturell von den Kultureinrichtungen der so genannten Hochkultur. Ihre Arbeitsansätze und inhaltlichen Schwerpunkte richten sich zum Beispiel nach folgenden Grundsätzen: Betonung des erweiterten Kulturbegriffs, Förderung der künstlerischen Eigenbetätigung, Integration verschiedener Altersgruppen, Förderung von Frauenkultur, Einbeziehung sozialer und ethnischer Minderheiten, Gewährleistung von demokratischen Organisationsformen und selbstverwalteten Entscheidungsstrukturen.

Unsere Verfassung teilt die Pflege von Kunst und Kultur – also auch die Förderung der Soziokultur - den Ländern und Kommunen zu. Die kulturpolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen des Bundes konzentrieren sich daher vor allem auf die Verbesserung und Fortentwicklung der Rahmenbedingungen, den Aufbau und die Förderung gesamtstaatlich bedeutsamer kultureller Einrichtungen und die Bewahrung des kulturellen Erbes. Der Bund kann also die Soziokultur nur im Rahmen der Zuteilung an Fonds und im Rahmen der Modellförderung bedenken. Modellförderung heißt in der Konsequenz aber auch, dass die Länder und Kommunen eine Anschlussförderung für Folgeprojekte bereitstellen.

Die Zentren selbst rufen keineswegs nach einer Überversorgung mit öffentlichen Geldern. Sie sind ihrerseits auch auf ihre finanzielle Eigenständigkeit bedacht, um ihr Prinzip der Selbstständigkeit zu leben. Allerdings darf das "Nagen am Hungertuch" nicht so weit gehen, dass um der Eigenwirtschaftlichkeit willen wichtige, kostenträchtige Programmbereiche zurückstehen oder sogar entfallen.

(Beifall bei der SPD)

Die Zentren erwirtschaften fast die Hälfte ihres Etats selbst. Ein Viertel kommt von den Kommunen, ein Zehntel von den Bundesländern und vom Bund kommen aus den schon erwähnten Gründen 0,25 Prozent. 

Die einzelnen Bundesländer bewerten die Bedeutung der soziokulturellen Zentren sehr unterschiedlich. Gerade die neuen Bundesländer - dies möchte ich besonders herausstellen – schätzen diese Einrichtungen besonders hoch ein, da hier vor allem in der Jugendbildung ein großer Bedarf an kulturpolitischer Arbeit besteht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Beim statistischen Ländervergleich fällt allerdings auf – jetzt ist Minister Zehetmair leider nicht mehr anwesend, ich war schon erstaunt, dass er zu diesem Thema kommt -, dass Bayern kein einziges soziokulturelles Zentrum fördert.

(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Wieso gibt es denn in Sachsen-Anhalt kein einziges?)

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass es hier nur zwölf Zentren gibt, gerade einmal so viel wie im kleinsten Bundesland Bremen.

(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Wieso? Bayern hat nach Auskunft der Bundesregierung eine Menge! Sie verwechseln da etwas!)

Diese zwölf Zentren werden ausschließlich von den Kommunen gefördert.

(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ach so!)

So zahlt die Stadt München für den soziokulturellen Bereich fast 1 Million DM. Es lohne nicht, Anträge an den Kultusminister Zehetmair zu stellen, so hört man aus der soziokulturellen Praxis. Es gebe ja doch kein Geld.

(Walter Hirche [F.D.P.]: Aber wenn das eine kommunale Aufgabe ist, ist es richtig, dass die Stadt dafür bezahlt, nicht nur das Land oder der Bund!)

Das ist nicht nur peinlich, es ist auch beschämend in einer Zeit, in der in der übrigen Bundesrepublik mit den Mitteln der Soziokultur gegen den drohen den Rechtsradikalismus vorgegangen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Ganz anders dagegen Brandenburg und Sachsen. In Brandenburg wird der Stellenwert der Soziokultur besonders hoch bewertet. Die soziokulturellen Zentren werden als ein bedeutender, Demokratie bildender, gesellschaftspolitischer Faktor gerade in der Jugendbildung angesehen. Der Landesanteil Brandenburgs an der Förderung liegt durchschnittlich bei 35 Prozent. In Sachsen gibt es 47 Mitgliedseinrichtungen der Bundesvereinigung. Die Zentren sind sowohl kulturelle Dienstleister als auch Orte für gesellschaftspolitische, soziale und stadtentwicklungspolitische Fragestellungen.

In der Bundesrepublik Deutschland sind die soziokulturellen Zentren inzwischen flächendeckend verbreitet. Sie sind kein Phänomen von Großstädten mit studentischem Milieu.

(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Im Gegenteil! In den Städten sind sie seltener geworden!)

Diese Zentren gehören inzwischen zur Grundausstattung der kulturellen Infrastruktur. - Wieso "im Gegenteil", Frau Kollegin? Ich will ja gerade betonen, dass es überall welche gibt. Denn in der Großen Anfrage wurde auch gefragt, ob es sie nur in den Großstädten gibt. Die Antwort lautet: Nein. Rund 51 Prozent der Mitgliedseinrichtungen der Bundesvereinigung befinden sich in Städten mit über 100 000 Einwohnern. In Klein- und Mittelstädten und im ländlichen Raum haben sich in den letzten zehn Jahren soziokulturelle Zentren gebildet. Sie sind hier häufig der alleinige Anbieter von kulturellen Veranstaltungen und Aktivitäten und erfüllen als einzige die Aufgabe der kulturellen Grundversorgung.

Der Erfolg der soziokulturellen Zentren zeigt sich auch an der wachsen den Zahl der Besucher und Besucherinnen. Seit 1994 hat sich die Zahl um 35,3 Prozent erhöht, obwohl nur 6,2 Prozent mehr Zentren gebaut wurden. Im Schnitt kamen 1998 auf jedes Zentrum 59 000 Besucher. In Ostdeutschland haben allein 5,3 Millionen Menschen die Zentren der Bundesvereinigung besucht. Ich finde, dies ist eine herausragende Zahl.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die Bekämpfung von Gewaltbereitschaft und Ausländerfeindlichkeit ist der Bundesregierung besonders wichtig. Sie hat daher noch im Jahr 2000 erhebliche Fördermittel für Modellprojekte bereitgestellt, die sich mit dem Thema "Kultur und Konflikt" beschäftigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die Soziokultur hat eine emanzipatorische und integrative Wirkung, die sich aus ihrem freiheitlichen und demokratischen Ansatz entwickelt hat. Ich freue mich daher, dass Staatsminister Nida-Rümelin heute in seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag zu diesem Thema sprechen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die soziokulturellen Zentren freuen sich natürlich über die Würdigung ihrer Arbeit. Dies geschieht heute Abend. Aber sie erwarten auch, dass in einer komplizierter werdenden Lebenswelt die finanzielle Ausstattung auf die entsprechend komplizierter werdenden Aufgaben zugeschnitten wird. Ich kann die Länder nur auffordern - der Bund ist natürlich auch gemeint -, diese Politik im Sinne des Kulturföderalismus nachhaltig zu unterstützen. Dabei appelliere ich besonders an diejenigen Länder, die sich wie Bayern bisher vornehm zurückgehalten haben. Vom Erfolg der Soziokultur profitieren wir schließlich alle.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)