Die Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik

Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 13/107 vom 23.05.1996   Seite: 9509 

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Hanna Wolf, 
SPD. 

Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und 
Kollegen! Ich hätte diese Debatte gerne zu einem anderen Zeitpunkt 
geführt als gerade um Mitternacht. Ich finde bedauerlich, daß wir das 
nicht geschafft haben. 

(Beifall bei der SPD und der PDS) 

Deswegen hätte man Sie heute endlich einmal aufsitzen lassen sollen. 
(Günther Bredehorn (F.D.P.): Gerade daran liegt es!) 
Seit gut zwei Jahren gibt es eine Entschließung des Europäischen 
Parlaments - ich zitiere -: 

daß alle Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen ihrer sexuellen 
Orientierung gleichbehandelt werden müssen. 
Und die Bundesregierung? Frei nach dem Motto, daß nicht sein kann, was 
nicht sein darf, behauptet sie - ich zitiere wieder -: 

Das Bundesrecht erlaubt es nicht, Personen auf Grund ihrer sexuellen 
Orientierung sachwidrig ungleich zu behandeln. Die Entschließung des 
Europäischen Parlaments gibt deshalb zur Änderung des Bundesrechts 
keinen Anlaß. 

Folgerichtig finden sich in der Antwort der Bundesregierung zur 
Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik gehäuft 
Formulierungen wie "sieht derzeit keine Veranlassung", "liegen der 
Bundesregierung keine Erkenntnisse vor", "liegen keine Informationen 
vor", "vermag die Bundesregierung nicht zu erkennen", "sind der 
Bundesregierung nicht bekannt" und "ein Änderungsbedarf ist nicht zu 
erkennen" oder "es besteht kein Anlaß". 

Die vorliegende Antwort der Bundesregierung liest sich daher 
streckenweise, als ob die berühmten drei Affen mitgeschrieben hätten, 
die weder etwas sehen noch hören oder sagen wollen. 
Aber ganz so harmlos ist die Antwort der Bundesregierung denn doch 
wieder nicht. Wo sie argwöhnt, der grundgesetzliche Schutz der Ehe und 
Familie sei in Gefahr, wird sie deutlich: "der Familie den Vorrang vor 
anderen Formen von Lebens- und Wohngemeinschaften geben"", 
"undifferenzierte Ausdehnung", "nicht angemessen", "nicht 
beabsichtigt". 

Was Sie hier betreiben, meine Damen und Herren von der 
Regierungskoalition, ist nicht der grundgesetzliche Schutz von Ehe und 
Familie, sondern schlichte Privilegierung. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) 

Und die Privilegierung der einen schafft immer die Diskriminierung der 
anderen. Warum hat sich denn die Regierungsmehrheit in der 
Verfassungskommission so gesträubt, ein explizites Verbot der 
Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung aufzunehmen? Etwa, 
weil das Abendland zusammengebrochen wäre? Auch Sie müßten wissen, daß 
sich das Abendland auf eine andere Tradition berufen kann als auf Ihre 
äußerst eng gestrickte Familienideologie. 

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die SPD will weder die Ehe noch die 
Familie abschaffen. Sie sind höchstpersönliche Lebensentscheidungen. 
Unserer Meinung nach hat sich aber der Familienbegriff in der 
Bevölkerung im Laufe der letzten Jahrzehnte ausgeweitet. Wenn wir von 
Familie sprechen, meinen wir das Zusammenleben Erwachsener mit Kindern. 
Hier bedarf es des besonderen Schutzes durch den Staat. 

Um einem weiteren Mißverständnis vorzubeugen: Unser 
Emanzipationsbegriff verträgt sich schlecht mit der Vorstellung, daß nun 
alle lesbischen und schwulen Paare in den vermeintlich schützenden Hafen 
der Ehe einfahren sollten. Dazu haben wir in 25 Jahren Frauenbewegung 
gelernt, daß die von konservativer Seite so besonders geförderte 
Ehestruktur die Alleinverdienerehe ist. Sie bringt eine geradezu 
zwangsläufige Abhängigkeit der Ehepartnerin vom Ehepartner. Diese 
potentielle Abhängigkeit wollen wir lesbischen und schwulen Paaren gar 
nicht erst wünschen. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) 

Das Stichwort ist gefallen. 

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Beck möchte eine 
Zwischenfrage stellen. 

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollten es nicht anders, 
Frau Kollegin Wolf. 

Ich kenne Ihr SPD-Grundsatzprogramm von 1990. Darin steht ein sehr 
wichtiger Satz zu diesem Thema: Keine Lebensgemeinschaft darf 
diskriminiert werden, auch die gleichgeschlechtliche nicht. 
Teilen Sie mit mir nicht die Meinung, daß das Eheschließungsverbot für 
homosexuelle Paare und die Rechtsprobleme, die schwule und lesbische 
Paare haben, eine ungerechtfertigte Benachteiligung sind? Bei 
heterosexuellen Ehepaaren gibt es den direkten Ausfluß des 
grundgesetzlichen Schutzes der Ehe wie das Aufenthaltsrecht für den 
ausländischen Ehepartner, Rechtsfolgen aus dem Erbrecht, die besonders 
privilegierte Stellung im Erbschaftsteuergesetz. Meinen Sie nicht, daß 
wir als fortschrittliche Kräfte die Benachteiligung der homosexuellen 
Paare hier bekämpfen sollten? 

Teilen Sie mit mir nicht die Meinung, daß uns ideologische Vorschriften 
für Minderheiten, wie sie richtig, sozialistisch, emanzipiert oder frei 
zu leben haben, nicht anstehen, sondern wir es den Menschen selber 
überlassen sollten, wie sie leben und das rechtlich organisieren wollen? 

Hanna Wolf (München) (SPD): Ich komme noch auf alle Punkte, die Sie 
gerade angesprochen haben. Ich habe schon früher gesagt: Die 
Privilegierung der Ehe bedeutet die Diskriminierung von anderen 
Lebensformen. Dagegen müssen wir etwas machen. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS) 

Wir kämpfen gegen das sogenannte Ehegattensplitting; da haben wir ein 
Stichwort. Ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit, für zwei Menschen, 
die zusammenleben, eine steuerliche Privilegierung einzuführen. Wir sind 
einer Meinung, daß das Ehegattensplitting abzuschaffen ist. Aber Sie 
wollen es für andere Lebensformen einführen. Da sind wir anderer 
Meinung. Wir stimmen aber vollkommen darin überein, daß die 
Diskriminierung abgebaut werden muß. Dazu sage ich gleich noch etwas. 
Wir sehen den von der Bundesregierung in Abrede gestellten gesetzlichen 
Handlungsbedarf völlig anders. Dazu haben wir auch eine Initiative in 
Vorbereitung. Ich gebe zu, Herr Kollege Beck, daß wir darüber bei uns 
kontrovers diskutieren. 

Ich frage mich auch, was die Formulierung "nicht sachwidrig ungleich 
behandeln" heißen soll. Hält die Bundesregierung die derzeitige 
Ungleichbehandlung auf Grund der sexuellen Orientierung für sachgerecht? 
Ist es etwa sachgerecht, wenn eine lesbische Frau oder ein schwuler 
Mann das bestehende Mietverhältnis nicht fortsetzen kann, weil die 
Partnerin oder der Partner gestorben ist? 

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dazu haben wir 
Gesetzentwürfe vorgelegt!) 

Ist es sachgerecht, wenn Menschen, die in schwuler oder lesbischer 
Partnerschaft zusammenleben möchten, ihre Wohnberechtigungsscheine nicht 
zusammenlegen dürfen? 

Ist es sachgerecht, daß zwar Quasiverlobte oder selbst durch nicht mehr 
bestehende Ehen Verschwägerte, nicht aber gleichgeschlechtliche Partner 
oder Partnerinnen ein Zeugnisverweigerungsrecht haben? 
Ist es sachgerecht, daß lesbische Partnerinnen und schwule Partner im 
Erbrecht wie wildfremde Leute behandelt werden und ihnen alle möglichen 
entfremdeten Verwandte vorgezogen werden können? 

Ist es sachgerecht, wenn eine Nicht-EU-Bürgerin oder ein Nicht-EU-Bürger 
in Deutschland nicht auf Dauer mit ihrer lesbischen Partnerin 
oder seinem schwulen Partner zusammenleben kann, weil sie oder er kein 
Aufenthaltsrecht bekommt? Und das selbst bei vorliegender 
Unterhaltspflichterklärung. 

Es gibt solche Fälle, in denen ein schwuler Partner aus Deutschland in 
das ehemalige Jugoslawien ausgewiesen werden soll und sein Lebenspartner 
nichts dagegen machen kann. Das halte ich für eine massive 
Diskriminierung. Dagegen sollte gesetzlich vorgegangen werden. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.) 

Allerdings sieht die Bundesregierung das nicht so. Da sollten wir tätig 
werden. 

Das sind nur einige gravierende Beispiele, für die wir dringenden 
gesetzlichen Handlungsbedarf sehen. Die Behinderungen müssen ausgeräumt 
werden; denn sie verstoßen nicht nur gegen unser Grundgesetz und die 
schon erwähnte Entschließung des Europäischen Parlaments - sie verstoßen 
gegen Menschenrechte. 

Auf noch etwas möchte ich besonders eingehen: In ihrer Antwort spricht 
die Bundesregierung noch immer von "Menschen", "Personen", 
"Personenkreis", "Partnern" oder "Homosexuellen". Auch in diesem 
Punkt werden Frauen - die lesbischen Frauen - sprachlich wieder 
neutralisiert und zum Verschwinden gebracht. Versuchen Sie einmal, sich 
vorzustellen, wie es auf Sie wirkt, wenn niemand Sie wahrnimmt, wenn Sie 
glauben müssen, daß es eine solche wie Sie nicht gibt, daß Sie selbst 
womöglich gar nicht existieren. 

Die feministische Lesbenbewegung kämpft seit Jahrzehnten gegen dieses 
Verschwindenmachen an. Deshalb haben wir von der SPD-Fraktion im 
Frauenausschuß zu den Haushaltsberatungen auch immer wieder Anträge zur 
Förderung von Lesbenprojekten gestellt. Die Regierungsfraktionen haben 
sie immer wieder abgelehnt. Das nenne ich eine feine Fürsorge: keine 
gesetzliche Unterstützung, keine materielle Unterstützung. 
Auch auf der UN-Regierungskonferenz der Frauen in Peking hat Ministerin 
Nolte nicht dafür gestritten, daß die Gleichberechtigung der lesbischen 
Frauen im Abschlußdokument festgehalten wird. Da müssen sich die 
lesbischen Frauen wieder einmal selbst helfen. 

Eben in diesen Tagen läuft in Deutschland eine Kampagne "Come out - 
Lesben kommen raus". Wenn lesbische Frauen totgeschwiegen werden, müssen 
sie sich um so lauter melden. Wir unterstützen sie dabei. Ich freue 
mich, daß sich die Frauen gerade an diesem Wochenende in München Gehör 
verschaffen werden, und ich wünsche dieser Tagung in München vollen 
Erfolg. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der SPD und der PDS)