Verbrechensopfer, Rechtsstellung und Zeugenvernehmung

Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 13/89 vom 29.02.1996   Seite: 7899 

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Hanna Wolf, Sie haben das Wort. 

Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Die SPD hat mit ihrem Gesetzentwurf zum Opferschutz eine 
Initiative ergriffen, um unser Recht in diesem Bereich 
weiterzuentwickeln. Wir befinden uns nun gemeinsam auf der Suche nach 
den besten Mitteln, wie wir einen Opferschutz situationsgerecht umsetzen 
können. Ich baue darauf, daß wir in diesem Prozeß auch über die 
Fraktionsgrenzen hinweg zu einer guten Lösung kommen können. Die 
Ausführungen heute ermutigen mich in diesem Glauben, daß es zu einer 
breiten Mehrheit hier im Hause kommt. 

Ich möchte auf den Opferschutz speziell in Prozessen zu Sexualdelikten 
eingehen. Wir suchen hier nicht nach Regelungen für singuläre Fälle. 
Jährlich werden 15 000 Fälle von sexuellem Mißbrauch angezeigt. Die 
Dunkelziffer geht bis zu 300 000 Fällen. Das heißt, 300 000 Kinder 
jährlich können Opfer werden. 

Bei Sexualdelikten müssen wir auseinanderhalten, daß es sich im Prozeß 
um sehr unterschiedliche Zeugen handelt, die als Opfer aussagen: Die 
einen sind Kinder, die anderen erwachsene Frauen. Darüber hinaus sollten 
wir berücksichtigen, daß gerade Sexualdelikte von den Opfern individuell 
sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Wir sollten also nicht von 
einem starren Bild des Opfers ausgehen. Was für die einen 
traumatisierend wirken kann, kann für die anderen ein Akt der Befreiung 
sein. Wenn wir also Regelungen treffen, dann sollten sie möglichst offen 
sein und dem Willen des Opfers genügend Gehör verschaffen. 
Ich komme zu den Frauen, die als Opfer eines sexuellen Mißbrauchs oder 
einer Vergewaltigung aussagen. Häufig, aber nicht immer ist ihnen eine 
Aussage in Gegenwart des Täters nicht zuzumuten. Für Frauen, auch für 
sehr junge Frauen, kann es auch ein Akt der Befreiung sein, wenn sie 
ihre Aussage angesichts des Täters und in aller Öffentlichkeit machen 
können. 

(Christina Schenk (PDS): Sehr richtig!) 

Dem Opfer sollte also die Möglichkeit zu dieser Art der Aussage nicht 
genommen werden können. 
Welche Ziele wollen wir beim Opferschutzgesetz speziell im Fall von 
Sexualdelikten verfolgen? Das Gesetz soll zusätzliche Belastungen des 
Opfers durch Vernehmungen im Strafverfahren soweit wie möglich 
verhindern, und es soll zugleich den Wert der kindlichen Zeugenaussage 
stärken. Kinder können schwer begreifen, daß Mehrfachvernehmungen und 
ein Anzweifeln ihrer Aussage zu den üblichen prozessualen Vorgängen 
gehören. In einem Prozeß zum sexuellen Mißbrauch, der in die Revision 
geht, kann das Kind bis zu fünfzehnmal befragt worden sein. Da 
verschließt es sich oft. 

Der Wert der Zeugenaussage nimmt mit der Häufigkeit der Befragung ab. 
Kleine Kinder sagen oft nur ein einziges Mal aus. Dann sollte diese eine 
Aussage auch eine gerichtlich verwertbare Qualität haben. Wir müssen 
also auch das Problem der Mehrfachvernehmungen bei kindlichen Zeugen in 
Angriff nehmen. Statt Kinder immer wieder - zuerst von der Polizei, 
dann von der Staatsanwaltschaft und später in der gerichtlichen 
Hauptverhandlung - zu vernehmen und damit die Belastungen des kindlichen 
Opfers zu erhöhen, sollte versucht werden, sich von vornherein auf eine 
- und zwar kindgerechte - Vernehmung zu beschränken. Die 
Videoaufzeichnung dieser Vernehmung ist eine Möglichkeit, diese erste 
Aussage in dem weiteren Verfahren zu verwenden. Hierüber müssen wir 
Entscheidungen treffen. 

Die heutige Praxis, daß Gerichte die Strafe des Täters erheblich 
mindern, wenn er schließlich in der Hauptverhandlung durch ein 
Geständnis weitere Vernehmungen des Kindes erspart, halte ich für eine 
Notlösung. Der Täter muß für die Verletzungen, die er dem Opfer - meist 
Mädchen - zufügt, dem Unrecht dieser Tat entsprechend bestraft werden. 
Unzulänglichkeiten des Verfahrensrechts müssen vom Gesetzgeber beseitigt 
werden und dürfen nicht länger zugunsten des Täters gehen. 
Abschließend noch ein weiterer Punkt: Es ist ein wesentlicher 
Fortschritt, wenn das Opfer auch in finanzieller Hinsicht die gleichen 
prozessualen Möglichkeiten hat wie der Angeklagte. Die Prozeßkostenhilfe 
für das Opfer, wie sie von uns vorgeschlagen wird, räumt mit der 
sozialen Ungerechtigkeit auf, daß sich die einen eine anwaltliche 
Vertretung leisten können, die anderen alleine gelassen werden. Dabei 
müssen wir darauf achten, daß die Möglichkeit einer Nebenklagevertretung 
nicht in den Hintergrund tritt, sondern gestärkt wird. Gerade bei 
Sexualdelikten ist eine juristische Begleitung des Opfers unerläßlich. 
Vielen Dank. 

(Beifall bei der SPD und der PDS)