52. Sitzung des Deutschen Bundestages, 8.9,1999

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Die Parlamentarierinnen in 50 Jahren Deutscher Bundestag 

. . . 

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf.

Hanna Wolf (München) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frauen da oben auf den Tribünen! Es ist schön, daß Sie noch da sind und nicht abgeschlafft wie einige hier unten im Plenum.

Liebe Frau Rönsch, mir fiele jetzt natürlich auch etwas ein, was ich zitieren könnte, wo Ihre Stimme nicht bei den Stimmen war, aber ich lasse das heute.

Weil wir heute unsere Parlamentsarbeit erstmalig im Gebäude des Reichstages aufnehmen, möchte ich zunächst nicht nur an die 50 Jahre erinnern, in denen Frauen parlamentarisch an der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik mitgewirkt haben. Auch in der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 gab es gestandene Parlamentarierinnen. Heute morgen wurden schon einige von ihnen genannt.

Weil ich aus München komme, möchte ich von dieser Stelle aus der Münchner Lehrerin und SPD-Reichstagsabgeordneten Toni Pfülf gedenken. Sie war Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung von 1919 und danach bis 1933 Reichstagsabgeordnete. Sie hatte ihr Abgeordnetenzimmer im Obergeschoß dieses Hauses, im Plenum saß sie auf Platz 28. Toni Pfülf nahm sich am 8. Juni 1933 mit 56 Jahren das Leben. Sie ertrug die Machtergreifung der Nazis nicht, die sie schon aus der sogenannten "Hauptstadt der Bewegung" kannte. Sie konnte auch den Kompromiß nicht mittragen, den die durch die Verfolgungen dezimierte SPD-Fraktion gegenüber Hitler einschlagen wollte.

Toni Pfülf hat sich nicht als sogenannte Frauenrechtlerin verstanden. Ihre Sicht von Frauenpolitik war - jetzt zitiere ich aus ihrem Redemanuskript für eine Parteiversammlung von 1922 -,

"daß es überhaupt keine Frauenfrage gibt, daß alles, was heute als Frauenfrage deklariert wird, etwas ganz Selbstverständliches ist. Aber"

- das war an die anwesenden Männer gerichtet -

"wenn Sie das nicht sehen wollen, dann müssen allerdings wir Frauen den Teil vertreten, den Sie nicht sehen oder sehen wollen."

Wie recht hatte sie, und wie recht hat sie noch immer.

Toni Pfülf stritt für die Reform des § 218, die Reform des Ehe- und Familienrechts, die Reform des Scheidungsrechts, die Gleichberechtigung nicht ehelich geborener Kinder, die Gleichberechtigung von Beamtinnen gegenüber Beamten. Sie stritt auch vehement für die Abschaffung der Todesstrafe.

Was ist aus diesen Themen geworden? 14 Jahre Weimarer Republik haben keine Lösung gebracht. Die folgende Naziherrschaft hatte bekanntlich andere Ziele. Erst die letzten 50 Jahre brachten uns weiter, wenn auch meist nur nach zähem, langwierigem Ringen. Zumindest die Todesstrafe wurde gleich 1949 durch das Grundgesetz abgeschafft. Beamtinnen sind seit 1953 zur Berufsausübung nicht mehr zum Zölibat verpflichtet. Das Ehe- und Familienrecht wurde in den 50er Jahren reformiert. Seit 1958 gibt eine Frau durch Heirat nicht mehr ihre Geschäftsfähigkeit an den Ehemann ab. Die Reform des Scheidungsrechts wurde von der sozialliberalen Koalition in den 70er Jahren durchgesetzt. Seitdem gilt nicht mehr das Schuld-, sondern das Zerrüttungsprinzip, wie es schon Toni Pfülf 1928 in einer Reichstagsrede gefordert hatte.

Die Reform des § 218 - das wurde heute immer als eine der größten Debatten erwähnt, die auch ich selber in diesem Hause mitmachen durfte - war schon in den 70er Jahren als Fristenregelung angedacht und durchgesetzt, wurde aber dann doch vom Bundesverfassungsgericht gestoppt. Erst die deutsche Einheit gab uns in den 90er Jahren die Gelegenheit, eine neue Lösung zu finden. Ein überfraktioneller Antrag führte nach vielen Widerständen erst in der vorigen Wahlperiode zum Erfolg. Erst seit August 1995 liegt die Letztentscheidung über eine Abtreibung bei der schwangeren Frau. Wir dachten, das Thema wäre damit abgeschlossen. Aber nein, die katholischen Bischöfe wollen diese Lösung gerade wieder in Frage stellen.

Das neue Kindschaftsrecht stellt nichteheliche Kinder endlich mit ehelichen Kindern gleich. Gerade die Reformen in den 90er Jahren waren nur möglich, weil immer mehr Frauen ins Parlament kamen und bereit waren, über die Fraktionsgrenzen hinweg Koalitionen zu schmieden. Diese Themen standen einfach zu lange an. Auch das war für mich eine große parlamentarische Erfahrung, wie spannend es ist, über die Fraktionsgrenzen hinaus so etwas durchzusetzen.

Toni Pfülf sprach von der Durchsetzung der Menschenwürde, wenn es um ihre - um unsere - Themen ging. Heute sprechen wir von Gesellschaftspolitik. Gesellschaftspolitik geht alle an, Frauen wie Männer. Toni Pfülf argumentierte bei diesen Themen vor allem auch damit, daß der Gesetzgeber die gesellschaftliche Realität nachzeichnen müsse. Das Gesetz dürfe der Wirklichkeit nicht hinterherhinken.

Wir wissen jedoch, daß Gesetze auch bewußtseinsbildend wirken müssen. Gewalt gegen Frauen und Kinder waren die tabuisierten Bereiche, die zuerst die Frauenbewegung auf die Tagesordnung bringen mußte. Wir mußten durch Gesetze dem allgemeinen Unrechtsbewußtsein nachhelfen. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Vergewaltigung in der Ehe, sexueller Mißbrauch von Kindern, Kinderpornographie sind Probleme, für die wir auch im Parlament erst ein Bewußtsein schaffen mußten. Welch ein Armutszeugnis für ein Parlament, welch ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft!

Welch ein Armutszeugnis auch, daß diese Gesellschaft ein Programm "Frau und Beruf" nötig hat. Für eine demokratische, emanzipierte, das heißt für mich erwachsene Gesellschaft sollten die Ziele dieses Programms Selbstverständlichkeit sein. Dann bräuchten wir nur noch ein paar Gesetze, die Verstöße gegen den allgemeinen Konsens der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ahnden. Das wäre meine Vision.

Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes hätte dann auch nicht des Zusatzes von 1994 bedurft:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Nach meinen parlamentarischen Erfahrungen aus diesen 90er Jahren weiß ich, daß wir auch an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend nicht auf die bewußtseinsbildende Funktion von Gesetzen verzichten können, wenn es um Frauen geht. Deshalb laßt uns weiter kämpfen, im Parlament und draußen!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)