Berliner Brief    Juli 2002

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

liebe Freundinnen und Freunde,

 

dies ist mein letzter Brief an Euch als Eure Bundestagsabgeordnete, denn nach drei Legislaturperioden kandidiere ich nicht mehr. Ich möchte heute Rückschau halten auf zwölf Jahre Bundestag und mich mit einer persönlichen Ausschau von Euch verabschieden.

Die drei Legislaturperioden, die ich erleben durfte, waren von Anfang an sehr ereignisreich. Sie waren gekennzeichnet von

Ö      acht Jahren Opposition,

Ö      Willy Brandt in der Fraktion,

Ö      Hans-Jochen Vogel Fraktionsvorsitzender,

Ö      der deutschen Einheit,

Ö      Frauensolidarität über Parteigrenzen hinweg,

Ö      vier Jahren Regierung,

Ö      dem Wechsel von Bonn nach Berlin,

um nur die herausragendsten Ereignisse zu nennen.

Mein erster Wahlkampf 1986 mit Rau als Spitzenkandidat war aufgrund meines Listenplatzes zwar chancenlos aber intensiv. 1989 mit Lafontaine war ich auf unsicherem Platz, kam aber doch noch in den Bundestag. Ich war aufgestellt für ein westdeutsches Parlament und 1990 gewählt in ein gesamtdeutsches Parlament, ein ganz spezielles Ereignis für mich, die in Mecklenburg geboren und in Brandenburg aufgewachsen war. Ich habe auch in der Folge für die Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin gestimmt, da dies für mich die einzig richtige Konsequenz war.

Obwohl neu im Parlament wurde ich aufgrund meiner langen Erfahrung als Münchner AsF-Vorsitzende zur frauen– und jugendpolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion gewählt und blieb auch in den folgenden beiden Legislaturperioden stellvertretende Sprecherin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dies war also immer mein hauptsächliches Betätigungsfeld, auch wenn andere Themen dazu kamen. Mit vielen anderen Frauen und auch Männern haben wir hier schon aus der Opposition heraus acht Jahre lang gesellschaftliche Veränderungen bewirkt, auf die wir alle zu Recht stolz sein können. Wir haben

Ö       den § 218 endlich reformieren und den Konservativen eine Fristenregelung mit Beratungspflicht abtrotzen können,

Ö       nach 22 Jahren Arbeit durchgesetzt, dass die Vergewaltigung in der Ehe genauso bestraft wird, wie außerhalb der Ehe,

Ö       den Beginn der Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch auf das 18. Lebensjahr des Opfers verlängert.

 

1998 endlich in der Regierung angekommen, haben wir

Ö      den § 19 Ausländerrecht für Härtefälle geändert. Ausländischen Ehefrauen in Gewaltsituationen haben ein eigenständiges Aufenthaltsrecht.

Ö      Kindern das Recht auf gewaltfreie Erziehung verschafft,

Ö      ein Gewaltschutzgesetz verabschiedet, das präventiv wirkt, aber bei Gewalt den Täter aus der gemeinsamen Wohnung verbannt und die Opfer schützt,

Ö      Im Zuwanderungsgesetz einen Aufenthaltstitel aufgrund von geschlechtsspezifischer Verfolgung geschaffen,

Ö      Opfer von Frauenhandel haben für die Zeit des Prozesses als Zeuginnen Abschiebeschutz.

Wir können inzwischen sagen, dass der Gewaltbereich von uns im Wesentlichen gesetzlich abgearbeitet worden ist.

Wir haben aber in der Regierungszeit in der Frauenpolitik noch mehr getan: Unser Programm „Frau und Beruf“ macht Gleichstellungspolitik zur Querschnittsaufgabe, dem sogenannten Gender-Mainstreaming“:

Ö      Das Gleichstellungsgesetz für die Bundesverwaltung enthält nun Gleichstellungspläne mit verbindlichen Vorgaben. Damit ist es auch modellbildend für andere Arbeitsverhältnisse.

Ö      Die Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft sieht für die Privatwirtschaft vor: Chancengleichheit und Familienfreundlichkeit, Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen, Bereitstellung von zukunftsorientierten Ausbildungs- und Studienangeboten, Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter. Eine erste Bilanz erfolgt im Jahr 2003. Sind die freiwilligen Vereinbarungen nicht umgesetzt, folgt ein Gesetz.

Es gab auch kritische Themen, in denen ich in der Abstimmung unterlegen bin. Dazu gehört die Diskussion um den Import embryonaler Stammzellen. Ich lehne die verbrauchende Forschung mit embryonalen Stammzellen ab. Sie verändert unser Menschenbild grundlegend. Leider werden solche Themen in der Partei weniger intensiv diskutiert, als außerhalb. Ich würde mir wünschen, dass es wieder mehr solcher Diskussionen innerhalb der Partei gäbe.

Es freut mich ganz besonders, dass das Bundesverfassungsgericht eben erst unser Lebenspartnerschaftsgesetz für homosexuelle Paare, an dem ich aktiv mitgewirkt habe, voll bestätigt hat. Nun ist es höchste Zeit, dass die Konservativen die Blockade des zweiten Teils des Gesetzes im Bundesrat aufgeben.

 

Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch Rot-Grün ist auch ein sehr beachtetes Feld neu in die Bundespolitik gekommen - Kultur und Medien. Ich wurde Mitglied dieses Ausschusses. Nach Michael Naumann ist nun Julian Nida-Rümelin der Staatsminister. Was wir voran gebracht haben:

Ö      Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas wird nun am Pariser Platz in Berlin errichtet. Auf unsere Initiative ist eine entsprechende Stiftung vom Deutschen Bundestag Dezember 1999 beschlossen worden.

Ö      Es ist uns gelungen, bei der Europäischen Union die Buchpreisbindung im Rahmen nationaler Regelungen zu sichern.

Ö      Wir haben das Stiftungssteuerrecht novelliert, um neue Möglichkeiten für privates Engagement und für Mäzene, Stifter und Sponsoren zu eröffnen.

Ö      Wir haben dieses Jahr einen Gesetzentwurf zum Urheberrecht verabschiedet. Urheber und ausübende Künstler haben nun einen gesetzlichen Anspruch auf angemessene Vergütung.

Ö      Ebenfalls dieses Jahr haben wir die Bundeskulturstiftung mit Sitz in Halle ins Leben gerufen. Sie fördert besonders zeitgenössische Künste, denn innovative Kunst hat es schwer, sich durchzusetzen.

Wir sind als Kultur-AG mit unserem Antrag zum Berliner Stadtschloss unterlegen . Wir wollten, dass ein Wettbewerb zeigen sollte, wie innerhalb der alten Proportionen des Schlosses eine neue Gestaltung möglich sein könnte.

 

Natürlich gab es auch Bosnien, das Kosovo, Mazedonien, Afghanistan. Dies waren dramatische Entscheidungen, die sich niemand von uns leicht gemacht hat. Ich habe jeweils der Entsendung deutscher Truppen zugestimmt. Ihre Anwesenheit in diesen Ländern unterstützt die Bevölkerung, ihr Leben mittel- oder langfristig wieder in ihre eigenen Hände zu nehmen. Es ist auch sichtbar, dass die Bundeswehr ein zivileres Konzept von Friedenserhaltung hat, als manch andere Armee.

 

Mich haben auch unmittelbar Münchner Themen immer wieder begleitet, die ich hier nur in Erinnerung rufen möchte:

§         die A99

§         Doblinger verkauft Neue-Heimat-Wohnungen

§         Verkauf der Eisenbahnerwohnungen

§         Personalabbau beim DB-Ausbesserungswerk

§         Verlegung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr München nach Strausberg (Brandenburg)

§         Personalabbau bei der DASA

§         Telefongebühren

§         Postfilialen

§         Laserdrome

§         S-Bahn-Bahnhöfe

§         BAföG oder Schwangerschaft

§         Bebauung von Freiham

§         sexistische Werbung - und vieles mehr.

 

Ich habe mich um die Koordination Münchner Themen im Bund bei regelmäßigen Gesprächen mit OB Christian Ude gekümmert.

Ich habe mit meinem Abgeordnetenbüro in der Alten Allee den Bestand des dortigen SPD-Bürgerbüros gefördert, durch 24 Reisen von Besuchergruppen nach Bonn und Berlin und die Betreuung von Schülergruppen das Demokratiebewusstsein gestärkt  und durch die Teilnahme am Parlamentarischen Partnerschaftsprogramm den Schüleraustausch mit den USA unterstützt.

 

Ich freue mich, dass meine Arbeit auch öffentliche Anerkennung bekommen hat in Form des Bundesverdienstkreuzes, der Bayerischen Verfassungsmedaille und des Bayerischen Verdienstordens.

 

Wir hatten noch bis vor Kurzem Josef Felder, den letzten noch lebenden Reichstagsabgeordneten unter uns im Bundestagswahlkreis München-West. Ich habe ihn immer gerne besucht und ihn um Rat gefragt und bin stolz, ihn kennen gelernt zu haben. Damit verbinde ich den Dank an seine Schwiegertochter, Hannelore Felder, die ihn so selbstverständlich betreut hat.

 

In diesem Berliner Brief berichte ich wie immer aus meinem unmittelbar eigenen Politikbereich. Selbstverständlich deckt unsere Politik alle Bereiche ab. Darüber sollt Ihr Euch aber in den entsprechenden Publikationen der Fraktion informieren. Und vor allem: Wir haben Wort gehalten. Deshalb können wir, könnt Ihr, selbstbewusst  das neue Wahlprogramm vertreten, z.B. die Familienpolitik mit der Bereitstellung durch die Bundesregierung von 4 Milliarden EURO für Bildung und Betreuung in den nächsten vier Jahren.

Ich bitte Euch alle, für die Verlängerung des Mandats der rot-grünen Bundesregierung bis zuletzt überall intensiv zu werben. Es ist eben nicht gleich, ob Schröder oder Stoiber Bundeskanzler ist, ob Schily oder Beckstein Innenminister, ob Fischer oder Westerwelle Außenminister, ob Bergmann oder Reiche Familienministerin ist.

Ich sehe die Frauenpolitik noch nicht als erledigt an. Die jungen Frauen kommen heute ganz selbstverständlich weiter als früher. Das haben wir geschafft. Die Hochschulen und die Wirtschaft zeigen aber allein schon statistisch, dass es in den oberen Bereichen noch eiserne Strukturen gibt, die es zu durchbrechen gilt. Diese Aufgabe müssen die jungen Frauen heute für sich aktiv übernehmen, in Solidarität miteinander, mit Netzwerken und „Seilschaften“ und einem historischen Bewusstsein dafür, dass die Gleichberechtigung erkämpft sein will.

 

Ich danke allen, die mich in meiner politischen Arbeit treu unterstützt haben, in langer ehrenamtlicher Arbeit und später im Mandat.

 

 

Hanna Wolf

 

 

 

P.S.: Wer als Erinnerung eine CD-ROM mit den Inhal­ten meiner Homepage und einer Pressedokumentation oder die umfangreiche ausgedruckte Pressedokumenta­tion haben möchte, kann sie in meinem Wahlkreisbüro bis Mitte September anfordern.