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Gewalt gegen Kinder, wo muß der Gesetzgeber handeln? =

15. Mai 1995 - 0753

Hanna Wolf Gewalt gegen Kinder, wo muß der Gesetzgeber handeln?

Zur öffentlichen Anhörung zum Thema "Reform des Kind- schaftsrechts" erklärt die stellvertretende Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hanna Wolf:

Zur Stellung der Eltern zu ihren Kindern steht im Artikel 6 Grundgesetz, Absatz 2: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Im BGB § 1631 steht : I. Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichti- gen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. II. Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig. Im Kommentar (Palandt)finden wir: Die körperliche Züchtigung ist nicht schon als solche entwürdigend; der Klaps auf die Hand und selbst eine wohl erwogene, nicht dem bloßen Affekt des Elternteils ent- springende ("verdiente") Tracht Prügel bleiben nach der Gesetz gewordenen Fassung zulässige Erziehungsmaßnahme. Elterliche Erziehungsmittel sind Ermahnungen, Verweise, Ausgehverbote, Knapphalten, Taschengeldentzug. ...Die Erziehungsmittel können von jedem Elternteil gegen das Kind in eigener Vollstreckung angewendet werden, auch Einschließung, unmittelbare Gewalt (z.B. Wegnahme von Streichhölzern)......Eltern können.., um dem tatsächli- chen, nicht rechtlichen Widerstand (des Kindes)zu begeg- nen, staatl. Hilfe (Jugendamt, Polizei, Vormundschaftsge- richt) in Anspruch nehmen.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit 1995

1993 berichtet Prof. Dr.Dr.Wolfgang Gernert (Landschaftsverband Westfalen - Lippe, Landesjugendamt) in der Sitzung des Ausschusses für Frauen und Jugend vom 27. Oktober, daß Sozialarbeiter und Polizeibeamte von flie- ßenden Übergängen zwischen der körperlichen Züchtigung als Erziehungsmaßnahme bis zur körperlichen Mißhandlung sprä- chen. Die polizeiliche Kriminalstatistik berichte über mehr als 1.000 Fälle körperlicher Mißhandlung, die zur Anzeige kämen, und über mehr als 16.000 Fälle der sexuel- len Mißhandlung in der Bundesrepublik Deutschland. 1995 ist in der Presse zu lesen: - Brutalität in deutschen Familien nimmt zu. - "Es gab immer Gewalt in Ehe und Familie, aber in den vergangenen zehn, 15 Jahren haben sich die Formen allmählich verändert" so der Sprecher des Berufsverbandes der Deutschen Psychologen. " Die Leute laufen zunehmend als wandelnde Handgranaten rum" (SZ vom 27.4.1995)

Walter Wilken,(Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinder- schutzbundes) verwies in der gleichen Sitzung am 27.10.1993 auf den inzwischen wissenschaftlich erwiesenen Unwert von körperlichen Strafen in der Erziehung. Der verabreichte Klaps erreiche nie die intendierte Wirkung, führe aber, da man weiterschlagen müsse, zu einer Eskala- tion des Schlagens bis hin zu harten Strafen.

Weitere sozialwissenschaftliche Erkenntnisse haben erge- ben, daß die Anwendung körperlicher und seelischer Gewalt zu einem negativen Selbstbild von Kindern führt. Sie vermittelt ein Modell zum Anwenden von Gewalt als erlaub- tem Verhalten und fördert die Bereitschaft des Kindes, selbst Gewalt gegenüber Schwächeren auszuüben. So kommt es zu einem Kreislauf der Gewalt. Da die durch Gewalt er- zielte Akzeptanz von Werten und Normen nur Wirkung hat, solange sie kontrolliert wird, wird im Jugendstrafrecht auf die Anwendung von körperlichem und psychischem Druck verzichtet, unabhängig von der Schwere der Straftaten. Man muß daher auch in der Familie für eine gewaltfreie Erzie- hung eintreten. Obwohl das von der Rechtssprechung häufig bestätigte Züchtigungsrecht der Eltern nirgendwo im Gesetz steht, gilt es als Gewohnheitsrecht. Will man es abschaffen, so muß es durch den Gesetzgeber geschehen. Durch die Existenz des gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrechts können Eltern Aggressionen gegen Kinder für pädagogisch richtig halten. Dennoch ist in der Öffentlichkeit die gewaltfreie Erzie- hung schon akzeptiert. Solange die Gerichte aber ein körperliches Züchtigungsrecht der Eltern verteidigen, haben diejenigen, die dies anwenden, ein gutes Gewissen, und das muß ihnen genommen werden.

In Österreich, so berichtete Dr. Werner Schütz vom Bundes- ministerium der Justiz in Wien am 27. Oktober 1993 in Bonn, besteht seit dem 1. Juli 1989 ein absolutes Gewalt- verbot in der Kindererziehung. Die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen und seelischen Leides ist unzulässig, wenn auch in einem sog. lex imperfecta, d.h., Sanktionen sind nicht vorgesehen. Mit dieser Bestimmung ohne Sanktionen - flankiert durch Informationskampagnen und Bemühungen nach dem Motto: helfen statt strafen -, hat sich in Österreich sowohl die öffentliche Meinung als auch die Rechtssprechung geändert. Der allmählich eingetretene Meinungsumschwung trägt dem Willen des Gesetzgebers in der praktischen Kindererziehung Rechnung. So war es möglich, daß eine bahnbrechende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Österreich das autoritäre Ver- halten eines Elternteils, zu dem auch Gewalt gegen Kinder gehöre, zum rechtswidrigen Verhalten erklärte, das das Kindeswohl gefährde. Konsequenz dieser Entscheidung war die Entziehung der elterlichen Sorge, da Züchtigungsmittel unter die Gefährdung des Kindeswohls zu subsumieren seien.

Schon im Februar 1994 hat die SPD - Fraktion gefordert, im § 1631 BGB ein Züchtigungsverbot festzulegen. Weiter haben anläßlich der Verfassungsänderung die SPD-Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission beantragt, im Artikel 6 GG folgende Sätze anzufügen:" Die wachsende Fähigkeit der Kinder zu selbständigem, verantwortlichem Handeln ist zu berücksichtigen. Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Leider fand diese Änderung bei der Verfassungsreform keine Mehrheit, Artikel 6 GG blieb unverändert, ebenso wie der § 1631 BGB.

Der Formulierungsvorschlag des BMJ, nach dem "körperliche und seelische Mißhandlungen von Kindern" unzulässig sind, verwendet den technischen Mißhandlungsbegriff der einfa- chen Körperverletzung, der schon die Ohrfeige umfassen kann, wenn sie wuchtig genug ist. Diese Formulierung unterscheidet immer noch zwischen "leichten" (= zulässi- gen) Aggressionen und schwereren, die verboten sind. Gleichzeitig verkennt sie die ganz andere Bedeutung des Wortes "Mißhandlung" in der Alltagssprache. Wer "mißhandelt" schon sein Kind.

Wir haben also den Widerspruch in unserer Gesellschaft, daß im Laufe der demokratischen Entwicklung der Bundesre- publik die Anwendung von Gewalt in der außerfamiliären Erziehung von Kindern verboten wurde, Gewalt in den Familien allerdings weiterhin zulässig ist. Wer aber gewaltfreie Erziehung nicht als Norm festschreiben will, duldet damit indirekt zugleich Gewalt in der Erziehung, eine Gewalt, die für die 400 000 Kinder, die jährlich so brutal geschlagen werden, daß sie körperliche Folgeschäden haben werden, fatale Folgen hat.

Mit dieser bundesdeutschen Praxis wird auch die UN-Kinder- konvention mißachtet, die auch von der Bundesrepublik ratifiziert wurde. Die UN-Kinderrechtskonvention verlangt, daß Gewalt in der Familie in klarer Weise rechtlich miß- billigt werden soll.

Um hier wirksam abzuhelfen, schlägt die SPD-Fraktion im vorliegenden Entwurf zum Kindschaftsrecht vor, § 1626 Abs. 2 BGB um folgenden Satz zu ergänzen: Die Eltern wenden weder körperliche noch seelische Gewalt gegen Kinder an, um sie zu erziehen.

15.05.1995 nnnn