Hanna Wolf
Opfer von Sexualdelikten nicht durch Prozeß traumatisieren
In der heutigen Debatte um den von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines "Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von Deliktsopfern und zum Einsatz von Videogeräten bei Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung" führt die stellvertretende Sprecherin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der SPD-Bundestagsfraktion, Hanna Wolf , aus:
Sperrfrist: Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort
Die SPD hat mit ihrem Gesetzentwurf zum Opferschutz eine erste Initiative ergriffen, um unser Recht in diesem Bereich weiterzuentwickeln. Wir befinden uns nun gemeinsam auf der Suche nach den besten Mitteln, wie wir einen Opferschutz situationsgerecht umsetzen können. Ich baue darauf, daß wir in diesem Prozeß auch über die Fraktionsgrenzen hinweg zu einer guten Lösung kommen können. Auch mit unserem Gesetzentwurf zur Aussetzung der Verjährung bei sexuellem Mißbrauch haben wir eine entsprechende Mehrheit gefunden.
Ich möchte auf den Opferschutz speziell in Prozessen zu Sexualdelikten
eingehen. Wir suchen hier nicht nach Regelungen für singuläre Fälle.
Es werden jährlich 15.000 Fälle von sexuellem Mißbrauch angezeigt.
Die Dunkelziffer geht bis zu 300.000 Fällen, d.h. 300.000 Kinder können
jährlich Opfer werden.
Wir müssen bei Sexualdelikten auseinanderhalten, daß es sich im Prozeß
um sehr unterschiedliche Zeugen handelt, die als Opfer aussagen: die einen sind
Kinder - die anderen erwachsene Frauen.
Darüberhinaus sollten wir berücksichtigen, daß gerade Sexualdelikte
von den Opfern individuell sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Wir sollten
also nicht von einem zu starren Bild des Opfers ausgehen. Was für die einen
traumatisierend wirken kann, kann für die anderen ein Akt der Befreiung
sein. Wenn wir also Regelungen treffen, dann sollten sie möglichst offen
sein und dem Willen des Opfers genügend Gehör verschaffen.
Ich komme zu den Frauen, die als Opfer eines sexuellen Mißbrauchs oder
einer Vergewaltigung aussagen. Es ist wohl häufig - aber nicht immer -
der Fall, daß eine Aussage in Gegenwart des Täters nicht zuzumuten
ist. Für Frauen - auch für sehr junge Frauen - kann es aber auch ein
Akt der Befreiung sein, wenn sie ihre Aussage angesichts des Täters und
in aller Öffentlichkeit machen können. Dem Opfer sollte also die Möglichkeit
zu dieser Art der Aussage nicht genommen werden können.
Welche Ziele wollen wir beim Opferschutzgesetz speziell im Fall von Sexualdelikten
verfolgen?
Es soll zusätzliche Belastungen des Opfers durch Vernehmungen im Strafverfahren
- so weit wie möglich - verhindern und es soll zugleich den Wert der kindlichen
Zeugenaussage stärken.
Kinder können schwer begreifen, daß Mehrfachvernehmungen und ein
Anzweifeln ihrer Aussage zu den üblichen prozessualen Vorgängen gehören.
In einem Prozeß zum sexuellen Mißbrauch, der in die Revision geht,
kann das Kind bis zu 15 Mal befragt worden sein. Da verschließt es sich
oft!
Der Wert der Zeugenaussage nimmt mit der Häufigkeit der Befragung ab. Kleine
Kinder sagen oft nur ein einziges Mal aus. Dann sollte diese eine Aussage auch
eine gerichtlich verwertbare Qualität haben.
Wir müssen also auch das Problem der Mehrfachvernehmung bei kindlichen
Zeugen in Angriff nehmen. Statt Kinder immer wieder - zuerst von der Polizei,
dann der Staatsanwaltschaft und später dann in der gerichtlichen Hauptverhandlung
- zu vernehmen und damit die Belastungen des kindlichen Opfers zu erhöhen,
sollte versucht werden, sich von vornherein auf eine - und zwar kindgerechte
- Vernehmung zu beschränken.
Die Videoaufzeichnung dieser Vernehmung ist eine Möglichkeit, diese erste
Aussage in dem weiteren Verfahren zu verwenden. Hierüber müssen wir
Entscheidungen treffen.
Die heutige Praxis, daß Gerichte die Strafe des Täters erheblich
mindern, wenn er schließlich in der Hauptverhandlung durch ein Geständnis
weitere Vernehmungen des Kindes erspart, halte ich für eine Notlösung.
Der Täter muß für die Verletzungen, die er dem Opfer - meist
Mädchen - zufügt, dem Unrecht dieser Tat entsprechend bestraft werden.
Unzulänglichkeiten des Verfahrensrechts müssen vom Gesetzgeber beseitigt
werden und dürfen nicht länger zugunsten des Täters gehen.
Abschließend noch ein weiterer Punkt:
Es ist ein wesentlicher Fortschritt, wenn das Opfer auch in finanzieller Sicht
die gleichen prozessualen Möglichkeiten hat wie der Angeklagte. Die Prozeßkostenhilfe
für das Opfer - wie sie von uns vorgeschlagen wird - räumt auf mit
der sozialen Ungerechtigkeit, daß sich die Einen eine anwaltliche Vertretung
leisten können, die Anderen alleine gelassen werden. Dabei müssen
wir darauf achten, daß die Möglichkeit einer Nebenklagevertretung
nicht in den Hintergrund tritt, sondern gestärkt wird. Gerade bei Sexualdelikten
ist eine juristische Begleitung des Opfers unerläßlich.
29.02.1996 nnnn