29. Februar 1996 - 0385

Hanna Wolf
Opfer von Sexualdelikten nicht durch Prozeß traumatisieren

In der heutigen Debatte um den von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines "Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von Deliktsopfern und zum Einsatz von Videogeräten bei Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung" führt die stellvertretende Sprecherin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der SPD-Bundestagsfraktion, Hanna Wolf , aus:

Sperrfrist: Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort

Die SPD hat mit ihrem Gesetzentwurf zum Opferschutz eine erste Initiative ergriffen, um unser Recht in diesem Bereich weiterzuentwickeln. Wir befinden uns nun gemeinsam auf der Suche nach den besten Mitteln, wie wir einen Opferschutz situationsgerecht umsetzen können. Ich baue darauf, daß wir in diesem Prozeß auch über die Fraktionsgrenzen hinweg zu einer guten Lösung kommen können. Auch mit unserem Gesetzentwurf zur Aussetzung der Verjährung bei sexuellem Mißbrauch haben wir eine entsprechende Mehrheit gefunden.

Ich möchte auf den Opferschutz speziell in Prozessen zu Sexualdelikten eingehen. Wir suchen hier nicht nach Regelungen für singuläre Fälle. Es werden jährlich 15.000 Fälle von sexuellem Mißbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer geht bis zu 300.000 Fällen, d.h. 300.000 Kinder können jährlich Opfer werden.
Wir müssen bei Sexualdelikten auseinanderhalten, daß es sich im Prozeß um sehr unterschiedliche Zeugen handelt, die als Opfer aussagen: die einen sind Kinder - die anderen erwachsene Frauen.
Darüberhinaus sollten wir berücksichtigen, daß gerade Sexualdelikte von den Opfern individuell sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Wir sollten also nicht von einem zu starren Bild des Opfers ausgehen. Was für die einen traumatisierend wirken kann, kann für die anderen ein Akt der Befreiung sein. Wenn wir also Regelungen treffen, dann sollten sie möglichst offen sein und dem Willen des Opfers genügend Gehör verschaffen.

Ich komme zu den Frauen, die als Opfer eines sexuellen Mißbrauchs oder einer Vergewaltigung aussagen. Es ist wohl häufig - aber nicht immer - der Fall, daß eine Aussage in Gegenwart des Täters nicht zuzumuten ist. Für Frauen - auch für sehr junge Frauen - kann es aber auch ein Akt der Befreiung sein, wenn sie ihre Aussage angesichts des Täters und in aller Öffentlichkeit machen können. Dem Opfer sollte also die Möglichkeit zu dieser Art der Aussage nicht genommen werden können.
Welche Ziele wollen wir beim Opferschutzgesetz speziell im Fall von Sexualdelikten verfolgen?
Es soll zusätzliche Belastungen des Opfers durch Vernehmungen im Strafverfahren - so weit wie möglich - verhindern und es soll zugleich den Wert der kindlichen Zeugenaussage stärken.
Kinder können schwer begreifen, daß Mehrfachvernehmungen und ein Anzweifeln ihrer Aussage zu den üblichen prozessualen Vorgängen gehören. In einem Prozeß zum sexuellen Mißbrauch, der in die Revision geht, kann das Kind bis zu 15 Mal befragt worden sein. Da verschließt es sich oft!
Der Wert der Zeugenaussage nimmt mit der Häufigkeit der Befragung ab. Kleine Kinder sagen oft nur ein einziges Mal aus. Dann sollte diese eine Aussage auch eine gerichtlich verwertbare Qualität haben.
Wir müssen also auch das Problem der Mehrfachvernehmung bei kindlichen Zeugen in Angriff nehmen. Statt Kinder immer wieder - zuerst von der Polizei, dann der Staatsanwaltschaft und später dann in der gerichtlichen Hauptverhandlung - zu vernehmen und damit die Belastungen des kindlichen Opfers zu erhöhen, sollte versucht werden, sich von vornherein auf eine - und zwar kindgerechte - Vernehmung zu beschränken.
Die Videoaufzeichnung dieser Vernehmung ist eine Möglichkeit, diese erste Aussage in dem weiteren Verfahren zu verwenden. Hierüber müssen wir Entscheidungen treffen.
Die heutige Praxis, daß Gerichte die Strafe des Täters erheblich mindern, wenn er schließlich in der Hauptverhandlung durch ein Geständnis weitere Vernehmungen des Kindes erspart, halte ich für eine Notlösung. Der Täter muß für die Verletzungen, die er dem Opfer - meist Mädchen - zufügt, dem Unrecht dieser Tat entsprechend bestraft werden. Unzulänglichkeiten des Verfahrensrechts müssen vom Gesetzgeber beseitigt werden und dürfen nicht länger zugunsten des Täters gehen.

Abschließend noch ein weiterer Punkt:
Es ist ein wesentlicher Fortschritt, wenn das Opfer auch in finanzieller Sicht die gleichen prozessualen Möglichkeiten hat wie der Angeklagte. Die Prozeßkostenhilfe für das Opfer - wie sie von uns vorgeschlagen wird - räumt auf mit der sozialen Ungerechtigkeit, daß sich die Einen eine anwaltliche Vertretung leisten können, die Anderen alleine gelassen werden. Dabei müssen wir darauf achten, daß die Möglichkeit einer Nebenklagevertretung nicht in den Hintergrund tritt, sondern gestärkt wird. Gerade bei Sexualdelikten ist eine juristische Begleitung des Opfers unerläßlich.

29.02.1996 nnnn